Luftangriffe auf deutsche Industrieanlagen waren in der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkriegs an der Tagesordnung. Doch so, wie die Nazis diesen Krieg von langer Hand planten, so hatten sie auch vorgesorgt. In den Betrieben lagen deswegen detaillierte, mit deutscher Gründlichkeit ausgearbeitete Alarmpläne für die Belegschaft vor. Erarbeitet worden waren sie in der Regel schon vor dem Beginn des Bombardements durch die Alliierten – ja zum Teil schon vor dem Ausbruch des Krieges.

Auf einem Flohmarkt entdeckte der Oberschelder Joachim Hartmann, der bis zum letzten Jahr der Vorsitzende des „Bergbau- und Feldbahnvereins Schelderwald" war, den Alarmplan für die Grube „Neue Lust". Die war bis zum Jahre 1963 in der Nanzenbacher Gemarkung in Betrieb und gehörte zu den größten im heimischen Revier.

Akribisch waren darin alle Maßnahmen aufgelistet. Die Luftschutzwarnstelle befand sich am Herrnberg, der Beobachtungsposten an der Seilbahnstation auf dem „Hölzchen", dem Berg nahe bei Oberscheld, der eine gute Rundumsicht bietet. Hier knickte die Seilbahn im rechten Winkel ab, die das in mehreren Gruben geförderte Eisenerz über die Höhen rechts der Schelde heranbrachte. Von hier aus waren es über das Tal hinweg nur noch wenige hundert Meter bis zu Hochofen.

Der Beobachter hatte im Falle eines Angriffs als erstes den Werkluftschutzleiter Schwarz auf „Neue Lust" telefonisch zu benachrichtigen, oder den Stellvertreter des „W.L.L.", Hermann Weyershausen. Zur Grube gehörte auch ein „Werkluftschutztrupp", der sich aus zwölf Männern zusammensetzte, die bis auf einen alle aus dem benachbarten Nanzenbach kamen. Diese hatten, wie das Dokument ebenfalls belegt, den dafür notwendigen Grundschulungslehrgang absolviert, der bereits am 7. und 8. Juni 1938, also noch zu Friedenszeiten (!) auf der Grube „Beilstein" stattgefunden hatte.

Die Alarmierung hatte dann laut Anordnung folgendermaßen vonstatten zu gehen:

„Seilbahnbedienung gibt empfangene Meldung an:

  1. Bote Erwin Müller
  2. evtl an W.L.L. Schwarz direkt
  3. Reinhard Wilh. Gräb bringt die im Magazin aufbewahrten Ausrüstungsgegenstand des Werkluftschutztrupps in den Schutzraum im Tiefen Stollen, Neue Lust.
  4. Die Seilbahnbedienung trifft die letzten Vorbereitungen zur Benutzung des splittersicheren Schutzraumes unter den Erzbunkern und bezieht ihren Beobachtungs- und Meldeposten.
  5. Erwin Müller bedient den Fernsprecher im Zechenhaus.
  6. Wilhelm Friedrich Gail bereitet den splittersicheren Schutzraum im Tiefen Stollen zur Aufnahme der übrigen Tagesbelegschaft vor.
  7. Im übrigen geht der Betrieb weiter.

Weitere Vorschriften lauteten: „Erwin Müller setzt den Kompressor, die Seilbahnbedienung die Seilbahn, der Lokomotivführer seine Maschinen still." Im Übrigen hatte Müller auch den Alarm-Gong am Zechenhaus zu bedienen sowie die Bewohner der Werkswohnung (damals musste der Betriebsführer mitsamt Familie auf dem Zechengelände wohnen) sowie die Übertage arbeitenden Belegschaftsmitglieder in den Tiefen Stollen zu bringen. Berge Um die fast hundert Knappen, die tief im Berge arbeiteten, brauchte man sich naturgemäß in diesem Moment keine Gedanken zu machen – nirgendwo konnte man im Falle eines Flugzeugangriffs sicherer sein als „vor Ort"!

Die Seilbahnbediener selbst hatten freilich mehr oder weniger an Ort und Stelle zu bleiben:

„Die Seilbahnbedienung bezieht:

  1. Brandwachenposten an den Seilbahntelefonen
  2. Beobachterposten auf der Seilbahnstation.

Maßnahmen während bezw. unmittelbar nach einem Fliegerangriff:

  1. Beobachter und Brandwache auf der Seilbahnstation nehmen so gut als möglich Sicht- und Splitterdeckung. Die Gasmaske ist verwendungsbereit umgehängt, bei Gasgefahr wird Gasmaske aufgesetzt.
  2. Beobachter und Brandwache melden über Betriebstelefon an W.L.L. Schwarz im Schutzraum sofort und genau ihre Beobachtungen, Fliegertätigkeit, Einschläge, Brände, Gasgefahr u.s.w.
  3. W.L.L. schreibt diese Meldungen mit Angabe der Empfangszeit genau auf und entscheidet über die sofort zu treffenden Maßnahmen."

So ziehen sich die Vorschriften mit detaillierten Namens- und Verhaltensangaben über mehr als ein Dutzend Seiten hin. Selbst der vorbeugende Luftschutz ist geregelt, unter anderem mit der Anweisung: „In Zukunft werden bei allen laufenden Dacherneuerungen die Gebäude (vor allem die Seilbahnstationen) so mit farbiger, teerfreier Pappe gedeckt, daß sie sich möglichst wenig von der nächsten Umgebung (Wald, Wiese, usw) abheben."

Das war ohnehin der Vorteil der Schelderwaldgruben: Sie schmiegten sich in Täler und an Hänge und die unmittelbare Umgebung war meist bewaldet, und der größte Teil der Gebäude war aus der Luft kaum von einem Wohnhaus oder einem landwirtschaftlichen Betrieb zu unterschieden. Selbst beim „Königszug", der als größter Betrieb im Schelderwald damals schon fast fünfhundert Beschäftigte hatte, mögen die Piloten der US Airforce die Übertageanlagen kaum als Hinweis auf einen großen Industriebetrieb gehalten haben.

Auch wenn die Beobachterposten auf dem „Hölzchen" vermutlich doch den einen oder anderen Alarm auslösten, so wird es vor allem diesen Umständen zu verdanken sein, dass es keine Bombenangriff auf diese Zechen gegeben hat.

Die gab es dennoch im Schelderwald – wie auch anderenorts vor allem gegen die Bahn. Davon berichtet unsere nächste Folge.