Siegbach-Tringenstein. Nein, wie 66 Jahre alt sieht er nicht aus. Eher würde man ihn für einen Mitfünfziger halten, der sich mit täglichen Joggingrunden trimmt. So vermutet auch kaum jemand, dass ausgerechnet er noch viel darüber erzählen kann, wie es war: das Leben der Bergleute im Schelderwald. Und doch: Dieter Heimann hat es noch über zwei Jahrzehnte selbst mit erlebt. Das, zusammen mit der zweiten Hälfte seines beruflichen Lebens, die er im Dillenburger Stahlwerk verbrachte, war nicht untypisch: Sein Werdegang spiegelt den Strukturwandel der heimischen Wirtschaft wider.

Gerade vierzehn war er geworden, als er im September 1949 die Volksschule von Tringenstein hinter sich gelassen hatte, in dem Dorf, in dem er geboren und aufgewachsen war. Berufliche Alternativen, gar etwa die weiterführende Handelsschule? Darüber brauchte er nicht nachzudenken. Sein Vater war mit zerschossenem Arm aus dem Krieg zurückgekommen. Da hieß es für das älteste von sechs Kindern: möglichst bald etwas zum Familienunterhalt beizutragen.

Also: in die Grube! Damit war der neue Lebensabschnitt des jungen Tringensteiners eingeleitet, genau so wie für weitere drei der insgesamt fünf Jungen, die gemeinsam acht Jahre auf den harten Schulbänken gesessen hatten.

In der Zimmerbude auf „Königszug", bei den dort Beschäftigten auch einfach die Holzbude genannt, begann für Dieter Heimann die Ausbildung. Grubenholz für unter Tage herrichten, also das Holz schälen, passend zimmern und dann tränken, das war eine seiner ersten Aufgaben, wie er heute noch weiß. Ungefähr im Vierteljahresrhythmus folgten die anderen Stationen: die Schreinerei am „Königszug", dann die Aufbereitungen der gleichen Zeche, die am „Herrnberg" und die am „Auguststollen". Auch wenn der Zweck der Anlagen alle der gleiche war, nämlich das gewonnene Erz vom tauben Gestein zu befreien, so arbeiteten sie jeweils nach einem anderen Verfahren.

Mit sechzehn hätte er nach dem Gesetz erstmals unter Tage arbeiten dürfen. Aber es kam anders für den Tringensteiner. Mit seiner Berufschulklasse besuchte er den Übertagebetrieb am „Auguststollen". „Befahren", sagt Dieter Heimann, der heute noch die Sprache der Bergleute benutzt. Und nach der „fährt" der Bergmann in die Grube - egal, ob er zu Fuß geht, am Seil hängt oder gar über gefährliche Leitern in die Tiefe klettert.

Die Dampflokomotiven, die die Abraumwagen schleppten, und die Benzolloks, die die Erzwagen über die Gleisen mit der schmalen Spurweite zogen, sowie der große Dampfbagger dort faszinierten ihn. Also meldete er sich freiwillig für den Betrieb auf dem Höhenzug, der das Schelde- vom Siegbachtal trennt. Hier sollte er sein zweites und sein drittes Lehrjahr verbringen, ohne dabei auch nur einmal unter Tage eingesetzt zu werden. Das blieb auch nach seiner Ausbildung so, bis zur Stillegung des Tagebaus im Jahre 1956.

Wie die anderen jungen Männer wurde er dann im „Ludwigstollen" eingesetzt, nur wenige Meter unterhalb der Tagebausohle. „Wir schafften unmittelbar unter den Wurzeln im ‚Alten Mann'", erinnert er sich mit einem Schmunzeln an diese Zeit. „Alter Mann" - das ist der Begriff des Bergmannes für einen Abbau, den schon die Vorfahren angelegt hatten.

Die nächste Arbeitsplatzveränderung kam zwei Jahre später - recht unvermittelt!
„Pack' dein Bündelchen und geh zum ‚Falkenstein'," sagte ihm ein Steiger, als er gerade zur Mittagschicht angetreten war. In dem neuen Bergwerk, das ein Jahr später seine Produktion aufnehmen würde, musste er einen ausgefallenen Mann ersetzen, bei dem Bau des neuen Schachtes. „Beim Abteufen", sagt der Tringensteiner - wieder ein Wort aus dem Vokabular der Bergleute. „Teufe", das steht für die Tiefe, in die der meist senkrechte Schacht führt.

Zwei Monate dauerte sein Einsatz beim „Berge laufen", wie der Knappe sagt, wenn er Abraum fahren muss. Im Handbetrieb schob Heimann die Grubenwagen von der Schachthalle zur Bergehalde.

Gelegentlich, wenn einer aus der Abteufmannschaft fehlte, musste er mit in den Schacht - eine völlig neue Erfahrung für den damals 23jährigen Mann, und wahrlich keine einfache! Arbeiten im Schacht gehören seit jeher zu den gefährlichsten unter Tage. Doch der am „Falkenstein" wurde fertig, ohne dass es zu einem schweren Unfall kam.

Aber: Täglich siebeneinhalb Stunden unter härtesten Bedingungen arbeiteten sie. Permanent im Nassen standen sie. Wasser, welches sich von oben aus dem Gebirge durch die Betonröhre drückte und sich im Schachtausbau gleichmäßig verteilte, ging auf dessen Sohle als starker Dauerregen nieder. Wasserdichte Kleidung und große Hüte, wie man sie sonst nur von Hochseefischern kennt, waren für die Männer erforderlich. „Aber schon nach zwei, drei Wochen wurden die Nähte undicht, und die Feuchtigkeit drang ein", beschreibt Heimann diese Unannehmlichkeiten.

Schließlich folgte das Abteufen eines 370 Meter tiefen Wetterschachtes. Ausschließlich der „Bewetterung", der Zufuhr von Frischluft unter Tage, sollte er dienen.

„Währenddessen war vom Hauptschacht eine Richtstrecke zum Lager aufgefahren worden, und Lastkraftwagen brachten die ersten Erze, die bei den Aus- und Verrichtungsarbeiten gewonnen werden konnten, zum ‚Königszug'." Dieter Heimann kann sich daran und an viele andere Ereignisse in der Chronologie der modernsten Grube, die jemals im Schelderwald abbaute, gut erinnern - auch dann, wenn sie ihn nicht unmittelbar selbst betrafen.

Die ersten regulären Abbauarbeiten begannen. In der neuen Zeche war der Einsatz von Schrappern gut möglich, deren baggerartige Schaufeln über verankerte Seilrollen bedient wurden. Nicht nur diese Geräte sorgten für Abbauergebnisse, die man bis dahin in diesem Revier nicht kannte. „Eine Tonne Erz pro Mann und pro Schicht waren Anfang der fünfziger Jahre auf dem ‚Königszug' die Regel. Auf ‚Falkenstein' schafften wir zehn Jahre später bis zu sieben Tonnen." Auch solche Zahlen hat Heimann im Kopf.

1966 passierte es dann, nachdem er trotz mancher gefährlichen Arbeit tief im Berginnern Glück gehabt hatte: Beim „Beräumen der Firste", wie der Bergmann zu dem Bereinigen der Decke über ihm sagt, wenn er lose Gesteinsbrocken mit der Keilhause oder dem Brecheisen herunterholt. Eine Last, eine größere Felsplatte, stürzte herab und begrub ihn bis zur Hüfte. Der Kollege, der bei ihm war, konnte ihn nicht alleine befreien und musste erst einmal Hilfe holen. „Bricht da noch etwas ab?", das war die Angst der Verschütteten. Es dauerte zwar nur fünfzehn Minuten bis zu seiner Rettung, aber es war die bangste Viertelstunde in seinem Leben.

Sein Glück im Unglück: Die Verletzungen beschränkten sich auf Prellungen, Verstauchungen und Hautabschürfungen. Nach zwei Wochen im Krankenhaus war er wieder auf den Beinen.

So fortschrittlich, wie der junge Betrieb war, so mehrten sich doch die Zeichen für dessen Ende, nachdem 1968 die letzte Schicht auf „Königszug" gefahren worden war - der größten Zeche, die es jemals in Hessen gegeben hatte. Obwohl der „Falkenstein" gerade mal erst seit zehn Jahren Erze förderte, so konnte auch er nicht mehr lange gegen die internationale Konkurrenz stand halten.

Waren zunächst noch Bergleute vom „Königszug" übernommen worden, so begann schon bald auch hier der systematische Abbau der Belegschaftszahlen. 1971, als man sie um zwanzig Leute verringern wollte, bot die Betriebsleitung eine kleine Abfindung an, bei einer Kündigung im beiderseitigen Einverständnis. Dieter Heimann war einer von denen, die zuschlugen. Gerade mal zwei Jahre später kam dann das endgültige Aus für den Eisenerzbergbau im Schelderwald. Den Rest seiner alten Kollegen traf nun das gleiche Schicksal.

Der Übergang in die zweite Hälfte des Berufslebens verlief für den Tringensteiner reibungslos. 1959 war am Stadtrand von Dillenburg die Produktion von Edelstählen aufgenommen worden. Damals prangte das Firmenlogo „Südwestfalen" am weithin sichtbaren Turm der Blankglühanlage, über dem Zweigwerk eines Konzerns, der seine übrigen Produktionsanlagen in eben dem südwestlichen Zipfel des benachbarten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen hatte.

Diese Ansiedlung war auch ein Ergebnis weitsichtiger Planungen der damaligen Dillenburger Stadtväter gewesen. Denn als die Entscheidung dafür getroffen wurde, herrschte in der jungen Bundesrepublik Deutschland Aufbruchstimmung. Das Wirtschaftswunder, das einen bis dahin nie gekannten Anstieg des Wohlstandes auch für die kleinen Leute gebracht hatte, prägte das Denken der fünfziger Jahre.

Aber als Dieter Heimann sich hier um seinen neuen Job bewarb, hatte das zuvor zwanzig Jahre währende Wachstum einen ersten Einbruch erfahren. „Arbeitslosigkeit" war nach der Konjunkturkrise von 1966/67 auch in der Bundesrepublik kein Fremdwort mehr.

Dennoch: Er kam gleich unter, genau wie viele andere seiner alten Kollegen aus den sterbenden Gruben. „Bergleute wurden mit Kusshand genommen. Sie waren als zuverlässig und fleißig bekannt." Dass der einstige Berufsstolz nicht verloren gegangen ist, daran lässt er mit diesen Worten auch heute keinen Zweifel.

Nicht nur das Stahlwerk, das zeitweise beinahe tausend Arbeitsplätze bot, profitierte von ihnen. Im Straßenbau, im übrigen Metallgewerbe, das das Wirtschaftsleben der Dillregion seit jeher prägt, aber auch in den öffentlichen Verwaltungen waren sie gern gesehen.

Heimann starte als Handsortierer und als Coil-Verpacker in dem neuen zukunftsträchtigen Betrieb. Bei den Männern, die die Edelstahlplatten und die aufgerollten Bleche versandfertig machten, blieb er vier Jahre. Dann wechselte er in die Arbeitsvorbereitung und damit auch in den Angestelltenbereich. Für den Mann, der als junger Bursche einmal gelernt hatte, Eisenerz von unnützem Nebengestein zu trennen, war zuletzt die Arbeit am Monitor selbstverständlich.

Ziemlich genau zwanzig Jahre später wiederholte sich etwas, was er 1971 auf dem „Falkenstein" erlebt hatte. Auch sein zweiter Arbeitgeber musste Arbeitsplätze abbauen. Ein zweites Mal nahm Heimann das Angebot an, sich in beiderseitigem Einverständnis zu trennen. Es war sein endgültiger Abschied aus dem Berufsleben, sein Schritt in den Vorruhestand, am 30. September 1991.

Er ging als Stahlwerker, aber in seinen Gedanken hatte er freilich nie Abschied von dem Bergmannsleben genommen. Dafür sorgten seine Hobbys, die ihren Anfang nahmen, als er noch unter Tage arbeitete. „Am Falkenstein herrschte ein kluftreiches Gebirge vor, wie man es sonst nicht kannte im Scheldebergbau", blickt Dieter Heimann zurück. Ärger beim Bohren brachten diese Hohlräume mit sich, aber dennoch schwärmt er: „Sie waren gefüllt mit herrlichen Kristallen."

Um 1964 muss es wohl gewesen sein, als ein Hobby begann, sein Berufsleben zu begleiten. Es waren die Sammler von wer-weiß-woher, die scharf auf die Falkenstein-Mineralien waren, und die ihn dafür sensibel werden ließen, was er sozusagen nebenbei tief im Berg drinnen fand. Fünf Jahre später trat er dem „Verein für Mineralogie und Geologie" bei.

Dass da längst das Interesse von Sammlern auch an denjenigen Werkzeugen geweckt war, mit denen er noch alltäglich zu tun hatte, konnte ihm dabei nicht entgehen. „Aus dem Siegerland kamen sie herüber, wo der Bergbau schon zu Ende war. Bei uns wollten sie allerlei kaufen", erinnert er sich. Nicht nur die glitzernden Steine sammelte er also fortan. Das „Gezähe", wie der Tringensteiner auch heute noch das Werkzeug bezeichnet, was die Knappen bei ihrer Arbeit benutzten, kam hinzu.

Den Höhepunkt seines Hobbylebens erlebte er im Jahre 1990, als die „Münchener Mineralientage" , die größte Fachmesse stattfand. „Calcite - Bausteine des Lebens", so lautete das Thema einer Sonderausstellung im Rahmen dieser Zusammenkunft. Deren Organisator, Dr. Werner Liebherr, war lange auf der Suche nach Exponaten gewesen - und schließlich durch Weitersagen bei Dieter Heimann fündig geworden.

Der Siegbacher Mineralien-Fan stellte ihm dafür seine hübschesten Fundstücke zur Verfügung. Zum Dank lud ihn der Heidelberger Wissenschaftler mitsamt Ehefrau nach München ein. Heimann: „Zwischen den Vitrinen des britischen und des österreichischen Nationalmuseums stand die mit der Aufschrift: ‚Dieter Heimann, Tringenstein'." Kann ein privates Hobby noch mehr an Würdigung erfahren?! Ein anderes Danke-schön hat bleibenden Wert: eine Sonderausfertigung eines Buches das Liebherr anlässlich dieser Ausstellung veröffentlichte und das der Autor extra für seinen Helfer aus dem Lahn-Dill-Kreis in Leder binden ließ.

Bis dahin hatte seine Sammlung ihren Platz unter dem Dachgeschoss seines Hauses in Tringenstein. Als die erste Enkelin geboren wurde, musste sie freilich weichen. Im Wohnzimmer und im Flur haben die Vitrinen heute ihren Platz gefunden.

Dass sie für das Publikum in den nächsten Jahren zugänglich sein sollen, ist seine Vision. Er weiß wo: „Im alten Rathaus werden wir Räume bekommen." „Wir" - damit meint er den jungen örtlichen Heimatverein, den er im Jahre 1993 mit gegründet hatte und in dessen Vorstand er Kassierer geworden war. Die Tringensteiner profitierten fortan von einem weiteren Talent dieses Mannes. Hölzerne Schilder fertigte er an, die seitdem den Wanderern in seiner heimatlichen Gemarkung und den Besuchern auf dem örtlichen Burgberg die Orientierung erleichtern. „Über zwanzig sind es mittlerweile", zählt er sie zusammen.

Der Mann, der bei seinem Eintritt ins Berufsleben noch nicht annähernd geahnt hatte, welche Rolle ein Gerät namens Computer einmal an seinem Arbeitsplatz spielen würde, hat sich der Traditionen seines Heimatdorfes besonnen. Sie so zu bewahren, wie es Dieter Heimann und seine Mitstreiter tun, bedeutet ein Stück Lebensqualität mehr für alle, die hier wohnen.