Über Selbstverständliches denkt man nicht viel nach. Das wird Otto Horch im Jahre 1913 auch nicht getan haben, als er sich am Ende seiner achtjährigen Volksschulzeit für einen Beruf zu entscheiden hatte. Wie die meisten Nanzenbacher Jungen in jenen Jahren ging er in den Bergbau.

Auf „Friedrichszug" fand er eine Anstellung. Das war für ihn ein Glücksfall: Der Fußweg zu dieser Zeche, die als einzige des Schelderwaldes damals schon im Besitz von Buderus war, war in zwanzig Minuten zu schaffen. Die meisten anderen Bergleute hatten in diesen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wesentliche weitere Märsche bis zu ihren Arbeitsplätzen zu bewältigen.

Auch das wird für ihn selbstverständlich gewesen sein: dass er gleich Mitglied in der Knappschaft wurde, hier seine Beiträge für den Krankheits- oder Unglücksfall und die Altersvorsorge bezahlte. Schließlich machten das alle Bergleute damals so.

„In 1934 wurde mir das Ehrenamt ‚Knappschaftsältester' übertragen", schrieb er rückblickend knapp zwanzig Jahre später in seinem Lebenslauf. Für sein persönliches Leben war das nicht mehr unbedingt selbstverständlich. Denn zum Knappschaftsältesten wurde in den Dörfern um den Schelderwald herum allenfalls einer benannt.

Tradition hatte es allerdings da schon seit Jahrhunderten, dass die Bergleute vorsorgten: für Krankheit und Alter, und vor allem auch für die Folgen von Unfällen bis hin zum Tod – schließlich gehörte ihr Beruf seit jeher zu den gefährlichsten im Lande. Ihr Vorsorgesystem regelten sie anfangs ausschließlich selbst. Aber auch im letzten Jahrhundert, als es per Gesetz schon für ganz Deutschland geregelt war, spielte die Selbstorganisation der Betroffenen noch immer eine große Rolle.

1994 veröffentlicht Ulrich Lauf sein Buch „Die Knappschaft", mit dem Untertitel „Ein Streifzug durch tausend Jahre Sozialgeschichte". Ausdrücklich geht er darauf ein, was heutzutage als Geburtsurkunde der bergmännischen Sozialversicherung betrachtet wird.

Am 28. Dezember 1260 signiert Bischof Johannes von Hildesheim ein Pergament, in dem er eine Bruderschaft an der Sankt-Johannes-Kirche am Rammelsberg bei Goslar bestätigt. Diese Harzer Bergleute hatten sie zuvor gegründet „zur Hilfe für die Armen und Schwachen, die durch die Arbeit in dem besagten Berg von körperlicher Hinfälligkeit und materieller Not bedingt sind". Der Bischof stellte sie damit unter den Schutz seiner Kirche.

Für diese Zeit ist solch ein Dokument nahezu einmalig. Es sollte 150 Jahre dauern, bis sich aus dem Harz und auch aus anderen Bergrevieren, vor allem aus Sachsen, die Hinweise auf ähnliche Zusammenschlüsse mehren. Um 1426 taucht erstmals der Begriff „Knappschaft" dafür auf. Aber noch gilt das Sammeln ihrer „Büchsengelder" mehr ihrem kirchlichen Leben – etwa dem Aufstellen von Kerzen oder dem Stiften von Altären.

Erst nach 1500 findet der konsequente Wandel in eine berufsständige Sozialfürsorge statt, bei der das Bezahlen von Geldern für Krankheit, Invalidität und die Begräbnisse ihrer Mitglieder in den Mittelpunkt rückt. Selbst finanzielle Zuschüsse für den Schulbesuch der Bergmannskinder gehörten zu Beginn der Neuzeit dazu.

Im neunzehnten Jahrhundert erfährt das Knappschaftswesen einen deutlichen Wandel. 1832, als das Industriezeitalter soeben eingeläutet worden war, wird im niederschlesischen Waldenburg das erste knappschaftseigene Krankenhaus eröffnet. In den Jahrzehnten danach sollten noch viele dazu kommen.

1854 schließlich, lange bevor Reichskanzler Otto von Bismarck die Grundlagen für ein einheitliches deutsches Sozialwesen schafft, regelt ein „Preußisches Knappschaftsgesetz" deren Angelegenheiten. Die öffentlichen Knappschaftsvereine werden fortan selbst verwaltet. Deren Vorstände setzen sich zu gleichen Teilen aus den gewählten Vertretern der Werksleiter der Knappschaftsältesten zusammen. Nach 1866, als unsere Heimat unter preußische Verwaltung kam, gilt das auch für die Bergleute des Schelderwaldes.

Nach 1870 setzen die Knappschaften ein anderes Signal. Im Ruhrgebiet boomt der Bergbau auf Steinkohle. Von überall her, selbst aus dem fernen Polen, werden die Arbeitskräfte angeworben. Sie und ihre Familien wohnen in den Orten, die sich manchmal binnen Jahrzehnten von Dörfern zu Großstädten mausern, zunächst meist unter erbärmlichen Bedingungen – bis die Knappschaften den Bau von Zechenkolonien fördern, und damit zu den Pionieren des sozialen Wohnungsbaus werden.

1923, in den jungen Jahren der Weimarer Republik, wird die Reichsknappschaft gegründet, in der die bisherigen Vereine aufgeben. Die ehemals weitestgehend eigenständigen Vereine müssen viel von ihrer Selbstbestimmung aufgeben, als sie in den Bezirksvereinen aufgehen. Die für das Revier an Lahn und Dill zuständige ist die Gießener Knappschaft, die ihren Sitz in Weilburg bekommt. Das benachbarte Siegerland Revier, das damals genau so bedeutend ist, hat seinen Bezirksverein in Siegen.

Die meisten dieser historischen Zusammenhänge wird Otto Horch nicht gekannt haben, als er 1934 sein Amt übernimmt. Aus der Sicht der Knappschaftsspitze ist es aber in diesem Jahr eine absolute Selbstverständlichkeit, dass Aufgaben von einem Knappschaftsältesten vor Ort wahrgenommen werden.

Zu ihm haben die Kollegen aus dem Dorf den kurzen Dienstweg, im wahrsten Sinne des Wortes. Er übergibt ihnen bei Bedarf die Krankenscheine und andere Formulare und hilft, wenn notwendig, beim Ausfüllen derselben – so wie er auch im Zweifel ein Auge darauf hat, dass kein Missbrauch mit den Leistungen dieser Solidargemeinschaft getrieben wird.

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Otto Horch wird Knappschaftsältester bis zu seinem Tode im Jahre 1964 bleiben. In diesen Jahren des bundesdeutschen Wirtschaftswunders spielt der heimische Bergbau noch einmal eine große Rolle. Doch die Jahre, die er da noch vor sich haben sollte, lassen sich an zwei Händen abzählen: 1968 schließt der „Königszug", der zehn Jahre zuvor noch 500 Knappen beschäftigt hatte, vier Wochen später wird der Oberschelder Hochofen ausgeblasen, der die Schelderwald-Erze seit 1905 verhüttet hatte. 1973 erfolgt das Aus für die Grube „Falkenstein", die erst 1959 den Abbau aufgenommen hatte.

So, wie sich die Wirtschaftsstruktur nicht nur an Lahn und Dill, sondern in ganz Deutschland gewandelt hat, so hat sich auch die Knappschaft gewandelt. Aber als starke Krankenkasse ist sie immer noch da. Seit 2007 steht sie durch einen Beschluss des Bundesgesetzgebers als solche für alle gesetzlich Versicherten offen.

Das erwähnte Dokument vom 28. Dezember 2010 ist für sie der Anlass, zum Ende des letzten Jahres ihr 750jähriges Jubiläum zu begehen. In Goslar und in Bochum, wo sie ihren Sitz hat, gibt es Feiern, und die deutsche Post gibt sogar zu diesem Anlass eine Briefmarke heraus.

Die Feiern wirken sich aus bis zum Rande des Schelderwaldes: Nanzenbach hat seit dem Jahre 2011 seinen „Knappschaftsweg". Der Hintergrund: Die Knappschaft Hessen-Thüringen mit Sitz in Frankfurt hatte alle Städte und Gemeinden dieser beiden Bundesländer angeschrieben, in denen es einmal Bergbau gab. Ob man nicht „vor Ort" eine Straße nach der Knappschaft benennen könne?

Dillenburgs Bürgermeister Michael Lotz reicht dieses Ansinnen an seine Ortsvorsteher weiter. Neubaugebiet mit neu zu benennenden Straßen gibt es derzeit in keinem Stadtteil, und so hat der von Nanzenbach, Rudolf Gräb, diese Idee: einen kleinen Seitenstrang am oberen Ortsausgang, der seither zur Hauptstraße zählte, in „Knappschaftsweg" umzubenennen.

Die Anlieger, die er befragte, stimmten sofort zu – zumal wohl kaum woanders eine paar Häuser so dicht zusammen stehen, die allesamt Bezüge zur bergmännischen Tradition unserer Heimat haben.

Dort, wo jetzt die Nr. 5 am neuen Knappschaftsweg prangt, empfing bis vor knapp fünfzig Jahren der Knappschaftsälteste Otto Horch seine Kollegen, um ihnen weiter zu helfen Wie viel hundert Bergleute werden den kurzen Stich bis zu seinem Haus gegangen sein, um seine Hilfe in Anspruch zu nehmen? Sein Sohn Manfred, der heute hier lebt, lernte auch noch den Beruf des Bergmannes. Bevor er zum Dillenburger Straßenbauamt wechselte, arbeitete er auf dem „Königszug" noch als Gehilfe bei den Markscheidern, bei denjenigen, die über und unter Tage für das Vermessen zuständig waren.

Am Rande des Gartens vom „Knappschaftsweg 3", den sein Nachbar Stefan Diehl nach dem Umbau der geerbten Scheune zu einem Wohnhaus gerade neu gestaltet hat, gab es noch vor einem halben Jahrhundert ein Stollenmundloch, das vom örtlichen Bergbau auf Kupfererze übrig geblieben war. Der Stollen führte zum „Kupferkauter Schacht", der wiederum in Verbindung mit der „Gemeine Zeche" stand. Hier wurde, wie der Name schon sagt, vor allem Kupfer gewonnen, daneben auch noch Eisenerz und Schwefelkies. Immerhin bildeten die „Gemeine Zeche" mit der „Neuen Mut" und der „Alten Lohrbach" und einigen kleineren Nanzenbacher Gruben einmal das bedeutendste Kupfererz-Reservoir von ganz Nassau. Diese zu verhütten, war 1728 der Anlass, die „Isabellen-Hütte" zu gründen – ein Dillenburger Traditionsbetrieb, der heute noch als High-Tech-Unternehmen Produkte in alle Welt liefert.

Das taube Gestein aus diesem Stollen hatten die Knappen im vorletzten Jahrhundert auf eine Halde gekippt, die bis an die Hauptstraße heranreichte. Reinhard August Horch, mein Großvater, kaufte diese Halde im Jahre 1926 und stellte das Haus darauf, das am neuen Knappschaftsweg die Nr. 2 trägt – mein Elternhaus, dessen Scheune ich zu Wohnzwecken umbaute.

Das sind nicht die einzigen Bezüge zum historischen Bergbau im Schelderwald. Heinrich Nickel, der gemeinsame Urgroßvater von Stefan Diehl und von mir, verstarb 1916 auf „Stillingseisenzug" nach einem Sprengstoff-Unglück. Unsere Großväter, Reinhold Nickel und Reinhard August Horch, verbrachten ihr komplettes Arbeitsleben unter Tage, der eine auf „Königszug", der andere auf „Friedrichszug".

Auch mein Vater, Helmut Horch, legte noch 1960 die Hauer-Prüfung ab. Insgesamt arbeitete er siebzehn Jahre im Bergbau, im „Königszug" und in der Wissenbacher Schiefergrube „Batzbach".

Das Umbenennen dieses kleinen Straßenstücks fällt in die Zeit, in der in diesem Dillenburger Stadtteil ohnehin eine regelrechte Aufbruchstimmung herrscht. Nanzenbach hat seinen Bescheid erhalten, in das hessische Dorferneuerungsprogramm zu kommen. Seitdem hat es mehrere Treffen gegeben, bei dem die Bewohner über die Zukunft ihres Ortes nachgedacht haben.

Auch an anderen Stellen im Dorf auf die Bezüge zum ehemaligen Bergbau zu verweisen, könnte helfen, die Traditionen zu wahren – und gleichzeitig dazu beitragen, einen sanften Tourismus, der sich in den Anfängen befindet, zu fördern. Es muss ja nicht immer gleich einer neuer Straßenname sein.