Die Menschen in unserer Heimat werden es damals als einen riesigen Fortschritt betrachtet haben, als endlich die Eisenbahn auf direktem Wege Dillenburg mit Biedenkopf verband. Als noch der Güterverkehr viel wichtiger als die Beförderung der Personen war, und als endlich die Gruben des Schelderwaldes, der Oberschelder Hochofen und die Eisengießereien im Hinterland auf direktem Weg miteinander verbunden waren.
Doch in den ersten zwölf Jahren war der Betrieb jenseits der Station „Herrnberg“ in der Nanzenbacher Gemarkung ein sehr umständlicher. Hier begann der Sechzig-Promille-Anstieg bis zur Wasserscheide kurz vor Hirzenhain-Bahnhof. Anfangs konnte der nur mit Zahnradtechnik bewältigt werden. Die Sicherheitsvorschriften besagten, dass die Züge hier jeweils nur aus der Lok und zwei Wagons bestehen durften. Die Zahnradlok musste jeweils talwärts vor den Wagen angekuppelt werden, egal bei der Bergan- oder bei der Bergabfahrt.
Ab dem Jahre 1923 stand dann eine neue Maschine zur Verfügung, die die Steilstrecke im Reibungsbetrieb überwinden konnte: die preußische T 16.1, die bei der neugegründeten Reichsbahn kurze Zeit später als Baureihe 94.5 eingeordnet wurde.
Die Vorschriften für die Steilstrecken wollten es auch, dass die hier eingesetzten Lokomotiven mit zwei voneinander unabhängigen Bremssystem ausgestattet sein mussten, und diese „94er“ hatten sie: neben der normalen Druckluftbremse die so genannte Riggenbach’sche Gegendruckbremse.
Diese Dampfrösser sollten fast fünfzig Jahre den Verkehr zwischen Dillenburg und Biedenkopf beherrschen. 1935 waren vierzehn Maschinen im zuständigen Bahnbetriebswerk der Oranierstadt beheimatet, 1951 ein Dutzend, und 1969 – drei Jahre, bevor sich die Dillenburger vom Dampfbetrieb verabschiedeten – noch exakt die Hälfte davon.
Freilich: Die Leistungen im Personentransport mussten sie sich ab dem Jahre 1956 mit zweimotorigen Schienenbussen teilen.
Einer von ihnen, der 94 1538 sollte ein besonderes Schicksal beschieden sein. Kurz vor Weihnachten 1971 wurde sie ausgemustert. Sie ging jedoch nicht wie fast alle anderen dem Weg zum Schrotthändler, sondern wurde herausgeputzt und sogar neu angestrichen. Als Denkmal sollte sie am Bahnhof Gönnern aufgestellt werden – dafür hatte ein örtlicher Bauunternehmer gesorgt. Was damals noch niemand ahnte: Sie sollte als solches nicht nur all ihre „Schwestern“ und die Scheldebahn überhaupt überleben, sondern ein gutes Vierteljahrhundert später wieder Züge durch die Lande ziehen.
Am 14. April des Folgejahres wurde sie von einer anderen 94er über die Wasserscheide in das Hinterländer Dorf geschleppt. Am 30. April folgte die feierliche Einweihung dieses technischen Denkmals – am gleichen Tage wie das ebenso feierliche Aus des Dampfbetriebes im Bahnbetriebswerk Dillenburg. Die mit Girlanden geschmückte 094 540-2 zog aus diesem Anlass ein letztes Mal sechs Personenwagen von der Oranierstadt nach Gönnern.
Nachgeschoben wurde der Zug von der Diesellok mit der Nummer 213 337-9. Einige rotlackierte Maschinen dieses Typs waren seit ein paar Tagen hier stationiert. Sie sollten die Ablösung der hochverdienten 94er bilden und bis zum Ende des Betriebes auf der Scheldebahn im Einsatz bleiben. Das erfolgte Ende Mai 1987. Da feierte kein Mensch mehr. Aber in den Wochen zuvor konnte man an manchen Tagen Dutzende von Fotografen an dieser Strecke beobachten, die die letzten Impressionen von dieser Strecke festhalten wollten. Drei Jahre später begann die Bundesbahn mit dem Abriss der Gleise zwischen Niederscheld und Breidenbach.
Die 94 1538 aber gammelte weiter vor dem Bahnhofsgebäude von Gönnern von sich hin. Zuletzt in einem mehr also desolaten Zustand – das Dach des Führerstandes war schon eingestürzt - geschah etwas, womit keiner der heimischen Eisenbahnfreunde mehr gerechnet hätte.
Zwei gut betuchte Dampflokfans aus dem Ruhrgebiet ließen die Maschine von ihrem Sockel auf einen Tieflader heben und in das Ausbesserungswerk der thüringischen Stadt Meiningen bringen. Für 800.000 Euro wurde sie dort instand gesetzt und wieder betriebsfähig gemacht. Ein Jahr später kam sie schon bei einer ersten Sonderfahrt zum Einsatz. Seitdem hat sie oft Museumszüge gezogen, vor allem in der Eifel um Gerolstein herum, aber auf anderen Strecken Deutschlands.
Wie es einmal war, wenn die 94 1538 den Schelderwald hinauf schnaubte, davon konnten seitdem dem Tausende von Enthusiasten noch einmal Eindrücke gewinnen – nur halt weit abseits der einstigen Heimat dieses Dampfrosses. Ob es eine Idee wäre, sie im Jahre 2011, dem hundertsten Geburtstag der Scheldebahn, auch mal wieder zurück nach Dillenburg nach Dillenburg zu holen – in die Eisenbahnerstadt, wo sie jahrzehntelang gewartet und auf die von hier ausgehenden Strecken geschickt wurde?!