Die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war eine Epoche raschen technologischen Wandels in der Eisenverhüttung. Zwei Gründe waren dafür maßgeblich.
Der erste Grund: Die Engländer, seit der Erfindung der Dampfmaschine ohnehin führend in der Montanindustrie, hatten ihre Hochöfen in den Jahrzehnten zuvor fast komplett vom Holzkohlen- auf den Koksbetrieb umgestellt und arbeiteten damit deutlich wirtschaftlicher. Jetzt machte sich die neue Technologisch auch rasch auf dem Kontinent breit.
Das Ruhrgebiet, wo das schwarze Gold aus der Erde geholt wurde, war auf dem Weg zum Standort Nummer Eins für die Eisenhütten. Da nach wie vor gegenüber dem Rohstoff Eisenerz ein Mehrfaches an Transportkapazitäten für den Energieträger Kohle gebraucht wurde, war es in der Regel deutlich billiger, den Eisenstein zur Kohle zu bringen – und nicht umgekehrt.
Der zweite Grund: Ebenfalls von England ausgehend, eroberte die Eisenbahn als neues Verkehrsmittel Europa. 1835 fuhr der erste deutsche Zug zwischen Nürnberg und Fürth. Danach wurde Deutschland binnen weniger Jahrzehnte von einem Netz an Linien überzogen, das wie geschaffen für den Transport von Massengütern war. Nachdem bis dahin Pferde- und Ochsenfuhrwerke oft mühselige Tagesreisen von den Gruben zur den Erzschmelzen zu bewältigen hatten, war es auf einmal kein Problem mehr, in der gleichen Zeit ein Vielfaches per Lokomotive auch über zwei-, dreihundert Kilometer weit zu befördern.
Was die meisten heimischen Hütten- und Bergleute noch nicht erkannten: Das rüttelte an den Grundlagen des heimischen Montanwesens. Dass sie 1857 gemeinsam den gesamten Aktienbesitz der Laaspher Ludwigshütte erwarben, war aber der Grund für die „Bank für Handel und Industrie für Darmstadt" und für die „Mitteldeutsche Creditbank zu Meiningen", die Lage gründlich zu analysieren.
Dass der Wirtschaftsstandort Lahn-Dill-Bergland mit seinen traditionellen Holzkohle-Hochöfen in hohem Maße gefährdet sei, war ihre Schlussfolgerung. Den gesamten Grubenbesitz der einheimischen Hütten in einer Hand zu vereinigen, die Zahl der Hochöfen zu verringern, diese dafür größer zu bauen, deren Energieträger auf Koks umzustellen und die übrigen Standorte in reine Weiterverarbeitsbetriebe umzustrukturieren – all das gehörte zu Empfehlungen der Bankiers aus Darmstadt und Meiningen.
Es kam tatsächlich so, wie sie anregten, auch wenn der Prozess acht Jahrzehnte dauern sollte; bis dahin sollten freilich die heimischen Hütten und Gruben immer wieder in Existenzkrisen geraten.
Doch zurück in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Es gab ja schon ein bedeutsames regionales Unternehmen, das schon mehrere Eisenhütten, im oberen Dietzhölztal und im Biedenkopfer Raum, und viele Grubenfelder, vor allem im Schelderwald, sein eigen nennen konnte. Wenn zwar längst nicht das einzige, so hatte die von Johann Jakob Jung gegründete Firma, deren Ursprünge auf das Jahr 1816 zurückgehen, sich zum wichtigsten im heimischen Montanwesen entwickelt.
Doch in den Jahrzehnten nach dessen Tod schien es oft eher, dass sich das für damalige Verhältnisse schon beträchtliche „Imperium" zersplitterte anstatt seine ökonomische und technische Schlagkraft auszubauen. Erst 1883 zogen Jungs Erben die Konsequenz und gründeten eine Aktiengesellschaft unter dem Namen „Hessen-Nassauischer Hüttenverein", die die Betriebe wieder unter einem Dach, mit einer Direktion und einem Aufsichtsrat, zusammenführte. 2,1 Millionen Mark betrug das Aktienkapital. Das wurde in jeweils dreihundert Aktien à tausend Mark an die sieben Stämme der Familie Jung aufgeteilt (1, S. 303).
Als 1892 das „Gesetz, betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung" erschien, und das für das Familienunternehmen Vorteile bot, wurde die AG in eine GmbH umgewandelt.
Zum Handeln war es da höchste Zeit. Denn 1862 hatte die Deutz-Gießener Eisenbahn Dillenburg an die weite Welt angeschlossen. Zehn Jahre später wurde die erste von hier abzweigende Stichbahn, die in den Schelderwald, in Betrieb genommen, 1892 dann die zweite, die nach Ewersbach führte. In den Jahren dazwischen, 1883, wurde die Linie von Marburg nach Laasphe eröffnet, die die Ludwigs- und die Amalienhütte anschloss.
Wie prophezeit, hielten die heimischen Holzkohle-Hochöfen dem überregionalen Konkurrenzdruck nur noch kurze Zeit Stand. Nach und nach erloschen sie. Der letzte war der von Eibelshausen im Jahre 1898.
War ein Stück Wirtschaftsgeschichte, das schon vor fast zweieinhalbtausend Jahren im Lahn-Dill-Bergland begonnen hatte, an seinem Ende angelangt. Nicht diese Frage, sondern eine ganz andere Sorge drückte die Manager des „Hessen-Nassauischen Hüttenvereins". Sie hatten jetzt das Problem, das ein für sie bis dahin äußerst sinnvoller Produktionsablauf unterbrochen worden war.
Zum einen hatten sich ihre Produkte aus Eisenguß gerade in den Jahren zuvor überaus erfolgreich auf dem Markt breit gemacht. Zum anderen hatten sie mittlerweile einen ausgedehnten Grubenbesitz, vor allem im Schelderwald. Ihnen blieb also jetzt nichts mehr anderes übrig, als die gesamten geförderten Erze auf dem freien Markt anzubieten – ebenso wie sie das Roheisen hier zu beziehen hatten. Damit waren sie dem konjunkturellen Auf und Ab mit all seinen Preisschwankungen beim Ver- und beim Einkaufen unterworfen – mit vielerlei negativen Folgen für die eigenen Betriebsabläufe!
1937 blickten die Autoren der Firmengeschichte von Buderus, des Unternehmens also, das kurz zuvor den gesamten Besitz des „Hessen-Nassauischen Hüttenvereins" übernommen hatte, auf die Gründe zurück, die schließlich zum Bau der modernen Anlage in Oberscheld führte (1, S. 321): „Bei einem Gießereiunternehmen, in dem die Erzeugung von Gußwaren aller Art eine beachtliche Größe erreicht hatte, das über eine eigene, für die Herstellung von Roheisen völlig ausreichende Erzgrundlage verfügte und in dem schließlich die Zeit der Roheisenselbstversorgung noch immer lebendig war, wurden derartige Unzuträglichkeiten in der Beschaffung des wichtigsten Rohstoffs mit ihrer jeglichem geschäftlichem Planen abträglichen Unsicherheit besonders stark empfunden. Von hier bis zu dem Entschluss, selbst wieder zu der Erzeugung von Roheisen, und zwar auf der neuzeitlichen Grundlage des Kokshochofens, überzugehen, war kein allzu weiter weg, zumal sich der Finanzierung dieses Planes keine unüberwindlichen Schwierigkeiten entgegenstellten.
Bei den Überlegungen spielte auch die Tatsache eine nicht unbedeutende Rolle, daß mit dem Übergang zur Eigenverhüttung der Bergwerksbesitz des Hüttenvereins einer besseren wirtschaftlichen Verwertung zugeführt werden konnte angesichts des Umstandes, dass auch dieser von den Schwankungen des Marktes durch das Hochofenwerk als Dauerabnehmer befreit werden konnte.
Das Hochofenwerk bot außerdem den Vorteil, daß nunmehr die geringprozentigen und fast unverkäuflichen Erzsorten mit wirtschaftlichem Erfolg verhüttet werden konnten, zu denen insbesondere der wenig transportfähige aber für den dünnwandigen Guß des Vereins bestens geeignete Flußeisenstein des Scheldegebietes (kalkhaltiger Roteisenstein) gehörte. Diese günstigen Rückwirkungen auf den Bergbau trugen ihrerseits dazu bei, den Entschluss beim Bau eines eigenen Kokshochofenwerks in die Tat umzusetzen."
Den neuen Hochofen direkt bei den eigenen Gießereien oder bei den Bergwerken zu errichten, diese Frage stellten sich die Investoren damals auch. Doch sie zu beantworten war nicht schwer. Schließlich lagen die eisenverarbeitenden Betriebe zu weiter verstreut. Eine direkte Eisenbahnverbindung vom Schelderwald zu denen an der oberen Lahn gab es ohnehin noch nicht. Nach wie vor endete die 1872 gebaute Scheldebahn als Stichbahn am „Nikolausstollen". Der Kokshochofen wurde „auf Erz" gebaut, dicht bei den wichtigsten Grubenfeldern des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins, und direkt an der Bahn, die 1911 endlich ins Hinterland verlängert werden sollte – womit auch die dortige Versorgung der Gießereien mit Roheisen erheblich erleichtert werden sollte.